Räumliche Zusammensetzung
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Spatial Correlation
Zur Arbeit von Oliver Kruse in der architekturgalerie am weißenhof in Stuttgart von CHRISTIAN HOLL, Kat. Oliver Kruse, räumliche Zusammensetzung, Stuttgart 2013
1. Der Titel der Installation von Oliver Kruse in der architekturgalerie am weißenhof gibt sich bescheiden, betont bescheiden, so als solle die Bescheidenheit programmatisch sein und sich damit vielleicht sogar selbst in Frage stellen. Ohne die Arbeit zu kennen, weiß man nicht, was ihr Titel bezeichnet, und so könnte man versucht sein, den Titel auf einen Schlüsselbegriff des architektonischen Vokabulars zu beziehen: den der Tektonik. Warum auch nicht, es ist schließlich eine
Ausstellung in einer Galerie, in der sonst Architekten ihre Arbeiten zeigen, architektonische Arbeiten auf ihre Aktualität überprüft, sie in Wert gesetzt oder reflektiert werden. Tektonik sei das Zusammensetzen von Bauteilen zu einem Gefüge, einem Bauwerk, so das Lexikon, die „Kunst des Zusammenfügens starrer, stabförmig gestalteter Teile zu einem in sich unverrückbaren System“ nannte sie Gottfried Semper in „Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten“.
Von der Tektonik als einer Poetik der Konstruktion spricht Kenneth Frampton gleich in der Einleitung von „Grundlagen der Architektur“: „Selbstverständlich geht es hier nicht um das Aufzeigen von Struktur und Technik, sondern vielmehr um ihr poetisches Ausdrucksvermögen. Insofern Tektonik einer Poetik der Konstruktion gleichkommt, ist sie eine Kunst, in dieser Hinsicht aber nicht unbedingt figurativ oder abstrakt.“
Da kommt die Kunst gerade recht. Sie kann Architekten, die sich durch Verordnungen, Vorschriften, Auseinandersetzungen mit Bauherren quälen, Energiekennziffern bedenken, Fachplaner integrieren und Budgets einhalten sollen, an das Poetische erinnern. Es wäre keine Erwartung, die an den in der architekturgalerie am weißenhof ausgestellten Künstler falsch adressiert wäre: Oliver Kruse hat das wunderbare Kinderhaus im Museum Insel Hombroich bei Neuss entworfen als solle es eine Illustration dessen sein, was Frampton unter Tektonik verstanden wissen wollte: ein konstruktives System, welches dadurch sichtbar wird, dass die verschiedenen Ordnungen der Raster und Module so aufeinander abgestimmt sind, dass sie ineinander aufgehen, ohne dass auf sinnliche Qualität oder funktionale Anforderungen verzichtet werden müsste. Poesie ist dort genau das, was Jan Turnovsky in „Die Poetik eines Mauervorsprungs“ unter Poesie verstanden wissen wollte: „Das wahre Poetische ist also poetisch und zugleich nichtpoetisch, beispielsweise praktisch.“ Oliver Kruse war Schüler Erwin Heerichs, dem wir die Pavillons des Museum Insel Hombroich verdanken, er hat sich immer wieder damit beschäftigt, wie sich Ordnungen aus gewohnten Zusammenhängen befreien lassen, um aus ihnen neue zu errichten, ohne die alten unsichtbar werden zu lassen. Aus Türen eines Gefängnisses entstand eine um die Form des Dodekaneders gelegte Plastik, die die geometrische Ordnung, die hohe Präzision spüren lässt und sie in Beziehung zur Entfremdung der Gegenstände, aus denen sie hergestellt wurde, treten lässt.
2. Wer sich mit solchen Assoziationen in die architekturgalerie am weißenhof begibt, könnte zunächst enttäuscht sein. Was sich dort im großen Ausstellungsraum zeigt, scheint auf den ersten Blick nicht mehr zu sein als eine mehr oder weniger willkürlich übereinander geworfene Ansammlung von Quadern. Beim genaueren Hinsehen stellt man fest, dass die Quader präzise ineinander gesteckt sind. Genauer gesagt ist die Plastik ineinander gesteckt, nicht aber die einzelnen Quader: Sie durchdringen sich nicht, sondern sind am Computer so entworfen, dass sie sich exakt ergänzen. Weiß man dies, wird man noch verstehen, dass die Plastik, auseinander genommen, nicht aus Quadern besteht, sondern aus komplexen Formen, die zusammengesetzt nur den Anschein geben, Quader zu sein. Wie diese Formen dann tatsächlich aussehen müssen, damit das, was zu sehen ist, tatsächlich entstehen konnte, entzieht sich bereits dem räumlichen Vorstellungsvermögen; verblüfft wird man möglicherweise nicht nur darüber sein, wie groß der Aufwand sein muss, um mit Präzision etwas zu erstellen, was zufällig aussieht, mehr noch, was den Anschein hat, sich einer nachvollziehbaren Ordnung zu widersetzen, aber auch dem Anspruch, irgendeinem Gebrauch dienlich sein zu können. Noch nie ließ sich Kunst darauf reduzieren, sich dem Gebrauch oder der leichten Aneignung zu entziehen, und so ist es auch 2013 kein hinreichender Grund, eine solche Arbeit zu rechtfertigen.
Doch diese hier möglicherweise erst einmal als gestörte Ordnung wahrgenommene „Zusammensetzung“ ist, das wird man in einer etwas weiter ausholenden Überlegung sich erschließen können, durchaus eine Form, die uns sowohl im Alltag, aber eben auch aus der Geschichte der Kunst vertraut vorkommen kann. Gordon Matta-Clark bricht ein Haus an einem präzise in seiner Mittelachse gesetzten Schnitt auseinander, schneidet so Decken und Wände auf, als sei aus dem Haus eine zuvor sich darin befindliche Figur entfernt worden. Robert Smithson schichtet Steinbrocken so aufeinander, dass sie die Form einer riesigen Spirale annehmen, Walter de Maria fasst Steine oder Erde in ein präzise definiertes Volumen, Allen Kaprow ließ einen Galerieraum mit Autoreifen füllen: Betreten war nicht verboten, sondern gefordert.
Auch weiter zurückgehend sind Referenzen nicht so schwer zu finden, wie man zunächst meinen könnte. Man denke an Michelangelo und dessen Schlacht der Zentauren oder sein Jüngstes Gericht der Sixtinischen Kapelle. Auch die Laokoon-Gruppe, alles andere als Abbild eines idealen Zustands, sondern eines Zerstörung, Untergang wie Dynamik und Veränderung gleichzeitig beinhaltenden Ausdrucks, ließe sich hier als Verweis anführen.
Im Grenzbereich zwischen Architektur und Plastik angesiedelt ist außerdem ein noch recht aktuelles Beispiel das aus der Zusammenarbeit des Künstlers Richard Serra mit Peter Eisenman entwickelte Stelenfeld, das „Denkmal der ermordeten Juden Europas“ in Berlin: wenn auch auf den ersten Blick eine weniger aus der Ordnung gebrachte Struktur, lässt es bei genauerem Blick und Erkunden das Potenzial, aus der Ordnung gebracht werden zu können, deutlich spüren.
3. Mit diesen kursorischen und ohne den Anspruch auf Vollständigkeit genannten Referenzen sei zunächst darauf verwiesen, dass sich die Arbeit räumliche Zusammensetzung von Oliver Kruse in einem Referenzraum bewegt, der explizit auf den Ort der Installation, die Weißenhofsiedlung, zu beziehen, interessante Felder möglicher Deutungen öffnet. Die genannten Arbeiten verweisen gleichzeitig auf die prinzipielle Instabilität von Ordnungen, wie darin auf ein Wesen dessen, was diese Ordnungen deswegen sinnvoll macht, weil sie sich der Stabilität nicht sicher sein dürfen. In der Spannung zwischen fest Gefügtem, im Moment der Bewegung oder aus ihr entstandenen Zuständen festgehaltenen Augenblicken, offenbart sich eine Spannung, die wir uns immer wieder vergessen zu machen bemüht sind. Zur Ordnung gehört ihr geschichtliches Moment, als Form in einer Zeit eine Balance herzustellen, die zwischen dynamischen Kräften gehalten wird, die aber als Form keinen Anspruch auf Form naturwissenschaftlicher Gültigkeit hat, da sie dem Kraftfeld gesellschaftlicher, politischer und ökonomischer Kräfte ausgesetzt ist. Architektur, so sehr sie sich auch darum bemühen mag als Abbild eines objektiven Entscheidungsprozesses entstanden zu sein, kann nicht objektiv richtig sein: es ist immer eine andere gute Lösung möglich. „Objektivität verlangt nicht nur, die eigene, individuelle Perspektive aufzugeben, sondern sie erfordert auch, dass die spezifisch menschliche Sichtweise ja sogar die für Säugetiere charakteristische Perspektive (…) überwunden wird“, so Nagel in seinem Essay „Das Subjektive und das Objektive“. In eine solche Perspektive lässt sich aber nicht alles integrieren, wodurch wir die Welt erfahren. Sie bleibt immer unvollständig, da sie etwa die Sicht nicht anerkennt, mit der wir die Identität unserer Persönlichkeit erleben. Nagel plädiert deswegen dafür, Objektivität nur als Teilansicht dessen, was wir wahrnehmen können, zu verstehen, und zu akzeptieren, dass „die Dinge nicht nur auf eine einzige Weise existieren.“ Diese Kontingenz der Existenz von den Dingen unserer Welt ist es, die überhaupt Handlungsspielräume eröffnet und es uns ermöglicht, über Gestaltung neue Wege der Weltdeutung zu gehen – allein schon zu verdeutlichen, dass es immer neue Wege gibt, ist eine solche Deutung. Die ist gerade dann besonders wertvoll, wenn die Gestaltung sich auf Kontexte bezieht, in denen nichts nahe liegend ist – hier mit dem Verweis auf Formen, die gerade genutzt werden, um die Möglichkeit einer ahistorisch gültigen Wahrheit zu formulieren, dass ein unverrückbares System eben höchstens ein relativ unverrückbares System sein kann.
Es lohnt sich, an dieser Stelle auf die Überlegungen des Beginns und den Begriff der Tektonik zurückzukommen und daran zu erinnern, dass es dabei nicht nur um das Aufzeigen von Struktur und Technik, sondern um deren poetisches Ausdrucksvermögen geht. Das poetische Ausdrucksvermögen wird ja gerade dann ausgespielt, wenn die Fixierung auf das, was allein den Maßstäben von Struktur und Technik gerecht wird, aufgegeben wird. Dass Oliver Kruse gerade die Möglichkeiten solchen Ausdrucksvermögens immer wieder auslotet, zeigt der Blick auf andere Arbeiten, in denen er diesem Anliegen möglicherweise eine auf den ersten Blick versöhnlichere Methode zugrunde legt, macht er doch sichtbar, dass die Leistung, das poetische Ausdrucksvermögen zu aktivieren, in der Entfremdung vertrauter Elemente vom ursprünglich gewohnten Rezeptionszusammenhang mit der Überführung in andere Ordnungsstrukturen verbunden ist.
4. Doch es wäre missverständlich, in räumliche Zusammensetzung einen weniger deutlichen Bezug auf alternative Ordnungsstrukturen als in anderen Arbeiten Kruses zu sehen. Dies wird möglicherweise deutlicher, wenn man einen weiteren Kontext einbezieht, in den die Arbeit eingebunden ist. Der Verweis auf Künstler wie Smithson, Serra und Kaprow zeigt, dass dieser Kontext der der Land Art ist. Sie arbeitet mit der Maßstabskonfrontation und dem Verorten künstlerischer Arbeit jenseits der räumlichen Dimension von Ausstellungsräumen. Durch diesen Verweis auf einen anderen, mitzudenkenden Kontext einer Einbettung in andere Räume anderer Dimensionen, aber auch anderer Kräfte, die in diesen Räumen morphologisch und topologisch gestalten, erhält nun die Tatsache eine Bedeutung, dass räumliche Zusammensetzung auf der Grundfläche eines Rechtecks errichtet wurde und in ihrer Anordnung im geometrisch einfach zu erfassenden Galerieraum mehr als unmittelbarer Pragmatismus zu sehen ist. Der Raum der Galerie als die Plastik umschreibender wird einer, der als ordnende Struktur sich auf den Raum des Landschaftlichen beziehen kann. Im Impetus des Setzens von Zeichen, des Ausbildens von Strukturen im landschaftlichen Raum wird er als ein Beziehungsraum aktiviert, in dem ein Handeln sinnvoll, weil sinnstiftend erfahrbar sein kann. Das bedarf der Erklärung. In einer der in letzter Zeit wieder häufiger erscheinenden Publikationen zum Thema Landschaft, dem Katalog „Wiederkehr der Landschaft“, schreibt Brigitte Wormbs, dass mit der Herstellung von Lesbarkeit im Medium der Landschaft (und genau das leisten Land Art und ihr verwandte Herangehensweisen) auch der Impuls enthalten sei, „das Wirkliche vom Möglichen her zu interpretieren“. Das ist eine Aufforderung, Landschaft als einen Raum zu begreifen, in dem Veränderungen möglich sind und sichtbar gemacht werden können. In der Landschaft kann konkret werden, was als abstrakter Sachverhalt – wie etwa auch die aktuelle Bedrohung unserer Lebensgrundlagen – uns zu überfordern droht. Darin bergen Land Art ebenso wie gute Landschaftsarchitektur selbst noch in der Formulierung einer Gefahr etwas zutiefst Versöhnliches, sie reagieren damit auf Verlust- und Versagensängste angesichts der drohenden Zerstörung unserer Lebensgrundlagen.
Jenseits von überkommenen Allmachtsphantasien, aber gerade deswegen vor den in Landschaft sichtbar werdenden Bedrohungen menschlichen Überlebens, braucht es keiner didaktisch erhobener Zeigefinger, die diese Zusammenhänge erst formulieren. Es reicht, dass man erkennt, dass Landschaft gesellschaftliches, in der Kommunikation relevantes Konstrukt ist, mit dem Sehnsüchte greifbar, Wahrnehmungsfähigkeiten geschärft oder Veränderungen ästhetisch vermittelbar gemacht werden – und gerade darin zeigt sich die Aktualität des Landschaftsdiskurses. Landschaft kehrt wieder als ein Reflektionsmedium über die Zukunft der Gesellschaft. Sie kehrt wieder als ein verändertes und veränderbares Bild, mit dem die Auseinandersetzung darüber möglich wird, was wir befürchten müssen, was wir hoffen dürfen und was wir tun sollten. In der Installation räumliche Zusammensetzung wird dies gerade dadurch betont, dass das scheinbar Übereinandergeworfene präzise kalkuliert und aufwändig hergestellt ist. Aus dem vermeintlichen Gegenüber der Installation wird mit dem Kontext des umgebenden Raums ein Zusammenhang hergestellt, der das Verständnis und das Erleben von Raum – und damit auch das sich Verständigen über „Raum“ – erst herstellt. So wird in Kunst wie in Architektur etwas geschaffen, was allein im Sprachlichen nicht zu bewältigen ist.
5. Und so wird die im Gefügten, in der räumlichen Zusammensetzung festgehaltene Fragilität der Komposition zu mehr als einem Kommentar über Architektur und schon gleich gar nicht eine Illustration dessen, was sich auch Architekten immer wieder vergegenwärtigen sollten, dass auch ihre Produkte keine der Ewigkeit seien, das, so richtig es sein mag, so trivial auch daher kommt. Kruses Plastik kann im Gegenteil auch als eine Arbeit gedeutet werden, die als Kunstwerk die Kontexte sinnstiftenden Handelns in einer Weise erst herstellt, die ihre Plausibilität nur der Form, in der sie geäußert wurde, verdanken. Sie zeigt damit das Vermögen der Kunst, Handlungsräume und Potenziale zu formulieren, die in einer Trennung zwischen Vorschlag einer Handlung und einer gesellschaftlichen Abstimmung darüber als politischer Prozess nur unzureichend das Feld absteckt, in dem ein öffentliches Agieren in menschlicher Gemeinschaft sinnvoll ist. räumliche Zusammensetzung wäre wenn, dann in diesem Sinne politisch, dass sie inkorporiert, in der Form einschließt, was als Gesagtes reine Didaktik wäre, dass sie die Trennung in etwas, was mitgeteilt werden könnte und etwas, das Träger dieser Mitteilung sei, absurd macht. Sie wäre dann insoweit politisch, als sie zeigt, dass wir ohne diese Verknüpfung der Form und des Sinns, der sich in ihr erfüllt, eine Auseinandersetzung über das, was wir im Gemeinsamen der Gesellschaft erfahren und als sinnstiftend erleben können, nicht führen können.
In diesem Sinne ist Kunst immer öffentlich und unverzichtbarer Teil solcher Öffentlichkeit, wie es die Architektur eben auch immer sein muss – ein Zusammenhang, der im Begriff der Kunst am Bau verharmlost und verdeckt wurde. Die Poesie der Tektonik ist demnach die Poesie der Kontingenz vom Material des Tektonischen ebenso wie es die Poesie ist, poetisch zu sein und noch etwas anderes. Dieses Andere muss nicht immer praktisch sein. Immer aber notwendig.